KomPostZeitschrift02

Marcel Reich-Ranickis »Mein Leben«
von unserer First-Claas-Cri-Tickerin Mercedes Carport
di Stratschatella


Ein schneller Blick ins Schaufenster des Schreibwarengeschäftes am Bremervörder Rathausmarkt reißt meine Gedanken aus ihrem Alltagstrott: Platz 9 der Hitparade deutscher Literatur im Spiegel einer Zeitschrift, deren Reflektorengehalt die Scheibenwischerindustrie in Lieferschwierigkeiten zu verwickeln droht und Brillenträger zu hyperaktiven Leistungen motiviert, auf der Suche nach dem verlorenen Putzlappen Marke Streifenfrei, belegt, besetzt, besteht, gewann, ersang, erschrieb, errang, erklomm ... der bewanderte Auswanderer und Wanderer zwischen den Ländern, Religionen, Stuhlreihen, germanistischen Kisten und Kästen, deutsch-deutschen Grenzstreifen ... Marcel Reich-Ranicki mit seiner Autobiographie »Mein Leben«.

»Werte Frau Riedel-Henck, sind Sie nicht ein bisschen spät mit Ihrer sicher gut gemeinten, im Angesicht der fortgeschrittenen Zeit völlig deplatzierten Kritik eines Kritikers, der über Ihre geringe Schriftstellergröße des Stolperns nicht zu gedenken wagen wird?«

Ein Geist der Zeit, Entschuldigung, immer wieder schleicht er sich zwischen meine naiven Kinderzeilen, um mich zu necken ob meines nicht vorhandenen Berühmtheitsgrades unter all den genialen Wortakrobaten sich gegenseitig tätschelnder und beinstellender Preiselbeerträger und -sammler.

»Typisch, sie hat nichts zu sagen, was nicht schon gesagt wurde, und probiert es nun mit witzigen Wortspielchen, um ihre egozentrische Veranlagung auf Kosten der wirklich Talentierten und ihre Preiselbeeren auch verdienthabenwollenden Kranzsammler in die Menge zu ko-, – Neid, nichts als Neid und noch einmal Neid!«

Schriftsteller sind allesamt schwierige Menschen, d. h. die Großen, die Kleinen weniger, denn sie fallen ja nicht auf. Ist Schreiben und Lesen vielleicht eine Art öffentliche Psycho-Therapie- und Analysestunde? Liegt der Kritiker auf der Couch oder das Buch, in dem er liest? Oder gar beide gemeinsam?

Nein, natürlich gibt es Kunst und Kitsch, hohe und niedere Literatur, Literatur und Nicht-Literatur, Kraut und Unkraut.

Vielleicht gibt es auch ein schizophrenes Volk, das sich solche Teilung und Zensuren gerne gefallen lässt? Um seine Dichter und Denker zu fördern und halten, zu rühmen und ohrfeigen, gemessen an den Kisten und Kästen, Grenzen zwischen dröger selbstredender Langeweile und humoristischer Spielfreude?

Wie auch immer: Auf dem Markt des gedruckten Wortes geht es wild zu, ist das Handwerkszeug des Kritikers wie des Kritisierten doch ein und dasselbe ... im Gegensatz zum verbal orientierten Kommentator flüchtender ungreifbarer Klänge, denen das träge Wort stets hinterherhinkt.

Ein Musikkritiker, der sich des Wortes bedient, bleibt dem Musiker ein fremder Geselle. Reich-Ranickis Vergleich vom Vogel als Schriftsteller und Ornithologen als »Literaturkenner« hinkt dann auch gleich auf beiden Füßen gleichzeitig, es sei denn, der Schriftsteller weiß mit seinen Worten Lieder zu singen. Überhaupt fällt es schwer, im schreibenden Menschen einen passenden Vergleich zur Tierwelt zu finden, denn nichts unterscheidet den Menschen vom Tier so sehr wie sein Bedürfnis, Zeichen zu setzen und Gesetze zu verankern, wie und auf welchem Wege diese zu deuten seien bzw. auf gar keinen Fall.

Auf Seite 30 meines alten Kosmos Naturführers »Was fliegt denn da?« (Stuttgart, 1966) lese ich unter Nr. 33, Buchfink, Kennzeichen: »pink, güb, güb«. Erkennen Sie seinen Gesang wieder?

Die Kohlmeise lässt gar ein zickiges »zizidä« ertönen. Was ist nur mit unseren Vögeln los? Haben sie sich nun allesamt zu Schriftstellern gemausert?

Der Feldsperling könnte sich gar als verkannter Schüler Thomas Manns outen mit seinem »tett tet«, während die Grauammer durch ihren klirrenden Gesang »zick zick ... schnirrps« ihre mimosenhafte Eitelkeit zur Schau trägt.

»Tschedewieh« heißt der neue Roman des Gelbspötters, eine autobiographische Auseinandersetzung mit seinem alten Nebenbuhler Zilpzalp, Autor des populären Dramas »tilltell«,  für das der Grauschnäpper nur ein verständnisloses »zz« ertönen lässt.

Nun, unsere Vögel lesen nicht gerne, und schreiben tun sie auch nicht. Und gerade jetzt im Winter picken sie eifrig nach den Äpfeln, fettigen Haferflocken und Sonnenblumenkernen, nicht aber in das Vogelbestimmungsbuch, das ich hier auf meinem Schreibtisch liegen habe.

Was treibt den Menschen, den Gesang der Vögel zu studieren, um seine melodiösen Gesänge in ein plattes »trrü-trrü ..., kljieh« und »glük lück-lück« (Prof. Schwarzspecht) zu zwängen? Langeweile? Bildungshunger? Wird man davon satt?

Nein, d. h. ja, will sagen: Nicht jeder Vogel hat ein Recht auf Futter, denn Gesang ist ja nicht gleich Gesang und Literatur nicht gleich Literatur, also echte, na das, was den holden Goethe ausmacht und all die anderen Klassiker von Schiller über Fontane bis Mann und Grass.

Machtspiele, Literatur und Politik. Der Kritiker als Richter, im Namen des Volkes. Brauchen wir Literaturkritik? Brauchen wir Literatur? Wenn ja, warum eigentlich?

Die Lebensgeschichte von Marcel Reich-Ranicki wirkt auf mich als Außenstehende und Nachgeborene wie die eines Menschen, der seinen Weg gegangen ist, mit Höhen und Tiefen, Erfolgen und Misserfolgen.  Warum das Bild des Autors im Erscheinungsjahr der Biographie auf Bussen der Frankfurter Buchmesse spazieren gefahren wurde, um monatelang aus Schaufenstern und Zeitschriften ernst und eindringlich in meine Augen zu springen, kann ich mir nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten erklären. Dem Autor schien dies zu gefallen, hat er doch wie jeder von uns ein Recht an seinem Bild. Mir persönlich gefiel das nicht.

Marcel Reich-Ranicki ist ein Mensch unter Menschen, jemand, der seinen Beruf in der Öffentlichkeit austrägt, um von dieser getragen zu werden. Popularität ist kein Siegel oder Zeugnis für Wert und Qualität zur Schau gestellter Arbeit, sondern vielmehr Ausdruck einer folgsamen unkritischen Volksmasse und kaufkräftigen, autoritätshörigen Leserschaft. Wie viele Autobiographien habe ich gelesen, Briefe, Tagebücher – spannend, stilvoll, inhaltsreich, originell, die keinen Verleger fanden oder nach der ersten Auflage aus dem Programm genommen wurden? Wer weiß um all die unbekannten Größen fern der öffentlichen Bühnen und ruhmreichen Preisverleihungen? In welcher Hinsicht ist Reich-Ranicki wie auch Thomas Mann eigentlich Außenseiter? Ist das nicht ein banales Spiel zwischen dem Ich, das uns allen innewohnt, und der Welt, die uns stets als Du und damit Außer-Ich begegnet? Drückt sich in dem Leid des sich so nennenden Außenseiters nicht vielmehr der Wunsch aus, die Welt möge sein Ich zum Wir erheben, damit es keinen Gegner fürchten muss?

Ein Volk, das sich einem Führer unterwirft, ist ein armes Volk, ein Volk der Ängstlichen und Feigen. Und mir macht Angst, dass ein Mensch wie Marcel Reich-Ranicki, Opfer deutscher Diktatur, den Part des Führers deutscher Literatur-Kritik so kritiklos mitspielt und offensichtlich hingabevoll zu genießen wagt. Da ich ihn trotz allem für einen sensiblen und intelligenten Menschen halte, würde ich ihn gerne wachrütteln. Aber ich fürchte, dass mein Schreiben nicht laut genug ist, denn auch ich bin schließlich nur ein Mensch und kein Vogel.

 

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1999.

 

 

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© 2001 J. Riedel-Henck

 

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